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1729 wurde entsprechend Andreas Gottliebs d.Ä. Grundsätzen die große Auslands-
reise der Brüder vorbereitet, die "Tour d' Europe“, wie sie damals als Bildungsreise für
junge Leute von Adel üblich war. Eigentlich sollte die Reise durch einen längeren
Aufenthalt am kleinen lothringischen Fürstenhof in Luneville eingeleitet werden, wo
sich eine angesehene Ritterakademie befand, die auch gern von norddeutschen
Protestanten besucht wurde. Die Brüder strebten aber weiter weg, und sie bettelten
den Eltern die Erlaubnis ab, zunächst nach Turin zu gehen. Denn, so argumentierten
sie wirkungsvoll, der Hof in Turin sei bei dem Alter und dem Ernst des Königs Victor
Amadeus II. strenger. und gesitteter; sie würden dort daher auch weit weniger
schlechte Gesellschaft finden als unter den vielen jungen Edelleuten in Luneville.
So brachen die Brüder nach einer vorangegangenen kleineren sommerlichen Reise
durch Bayern, Tirol und Salzburg im Herbst 1729 nach Turin auf, begleitet vom treuen
Keyßler und einem Diener. Über die große Bildungsreise findet sich bei Aage Friis "Die
Bernstorffs“ Bd.I S. 30 ff eine eingehende Schilderung, auf die hier verwiesen werden
muß, wie überhaupt Andreas Gottliebs d.J. Lebensbeschreibung dort nachgelesen
werden muß. Hier kann nur eine sehr geraffte Darstellung gegeben werden. Zitate in
Anführungsstrichen sind dem Werk von Aage Friis entnommen.
Die Reise ging von Tübingen über Straßburg und Basel zunächst nach Genf. Von dort
ging es nach einer Woche weiter über den Mont Cenis nach Turin, von wo aus man
eine Rundreise durch die Lombardei machte. Anfang Januar 1730 ging es über Genua
zur See nach Livorno, von dort über Pisa, Florenz und Siena nach Rom. Hier blieben
die Reisenden einen Monat und machten einen Abstecher nach Neapel, wo die
Ausgrabungen in Pompeji und Herkulaneum noch kaum begonnen hatten. Von Rom
reisten die Brüder u.a. über Ravenna, Bologna, Parma, Verona nach Venedig und von
dort über Triest nach Wien. Sie hatten also unter der Anleitung Keyßlers wirklich von
Italien das Wichtigste und Schönste gesehen, mehr jedenfalls, als heute junge Leute in
der Hast der Zeit zu sehen bekommen würden.
In Wien wurden sie am Kaiserhof dem Kaiser Karl Vl., dem Vater Marie Theresias,
vorgestellt. Anfang 1731 betraten sie wieder deutschen Boden, besuchten
Regensburg, die Stadt des ständigen deutschen Reichstages, und gelangten über
Ingolstadt und Mannheim nun schließlich doch nach Luneville. Sie blieben dort aber
nicht lange. Denn sie strebten nach Paris, wo sie im März 1731 eintrafen und 4 Monate
blieben. Hier standen sie "in Europas Zentrum, in der Stadt, die unstreitig den Ton
angab." "In der Erinnerung Andreas Gottliebs, der nie wieder dahin zurückkehren
sollte, stand die Zeit in Paris wie eine Offenbarung von etwas Strahlendem, wunderbar
Schönem, das er nie vergaß." Ende Juni 1731 zogen die Brüder und Keyßler über
Amiens nach Calais, von wo sie nach Dover übersetzten und nach London
weiterreisten. Hier standen ihnen natürlich alle Wege offen. König Georg Il. empfing sie
als Enkel des großen Dieners seines Vaters und zeigte ihnen gegenüber Freundschaft
und Wohlwollen. Nach zwei Monaten ging es wieder über den Kanal und über Lille und
Tournay, wo sie mit Interesse die Festungswerke besahen, nach Brüssel, Antwerpen,
Rotterdam und dem Haag. Von hier aus waren sie noch in Leyden, Amsterdarn und
Utrecht. Und am 11.11. 1731 trafen sie wieder in Gartow ein, nachdem sie
einschließlich der Tübinger Zeit 4 Jahre von Hause weggewesen waren.