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lager wurde der Mittelpunkt des Hauses, und nun lebten Mann und Kinder meist mit ihr
in ihrem Zimmer, aus dem alles starke Tageslicht verbannt war. Das schloß alle
Geselligkeit aus und gab Gartow einen ganz anderen Charakter als anderen
Edelhöfen." "Mit dem Adel der Umgegend hatte man keinen Umgang, die meisten
Männer standen auf einer zu niedrigen Bildungsstufe, und es waren meist
durchreisende Verwandte, Beamte aus Hannover oder Mecklenburg, einzelne Pfarrer
und Ärzte der Umgegend, Amtmänner oder Vögte, die auf Gartow zu Tische saßen.
Weiblichen Besuch fand man so gut wie nie; Dorothea Wilhelmine sah es am liebsten,
wenn man sie in Ruhe ließ."
"Wenn sie in ihrer Einsamkeit über religiöse Fragen gegrübelt hatte, füllte sie ihre
Briefe an den Schwager oder Jacobi, Schrader in London oder andere Vertraute mit
ihren Erwägungen; nur ein steter Strom religiöser Ergriffenheit befriedigte sie." - Die
von Dorothea Wilhelmine ausstrahlende Religiosität wirkte auch stark auf Andreas
Gottlieb. Auch seine Briefe an den Bruder sind erfüllt von religiösen Betrachtungen und
bezeugen ein sehr handfestes und schlichtes Christentum. Die Grundlage dieses
Christentums war die feste Überzeugung, daß jeder für jeden Gedanken und jede
Handlung vor Gott verantwortlich ist und daß Gott jeden führt, der sich zu ihm hält. So
wird jede Wohltat und jede Prüfung im täglichen Leben aus Gottes Hand mit
Dankbarkeit angenommen. „Gottes Wort ist die Richtschnur in allen Dingen". "Die
Brüder ermahnen sich gegenseitig, die Sünden und Versuchungen des Lebens zu
fliehen; sie malen sich beständig das Leben nach dem Tode aus, wo sie, von der
Sünde und dem Elend dieser Welt befreit, die ewige Seligkeit mit einander genießen
werden. Überall in ihren Briefen tritt dieser christliche Gedankengang hervor, und
besonders Andreas Gottlieb verknüpft stets die tägliche Arbeit mit seinem Glauben
durch schlagende Bibelstellen und kräftige Aussprüche."
Groß war in Gartow die Abneigung gegen alles Katholische. Als einer der Söhne
einmal einen ausländischen Diener annehmen wollte, schrieb Andreas Gottlieb ihm:
"Lutheraner, Reformierte, Griechen und Türken, so viel Du willst, aber Keinen, der
seine Grundsätze aus Rom hat"!
"Die innige Religiosität, die von Gartow ausging, beschränkte den Gesichtskreis, aber
andererseits schuf sie eine unerschütterliche Rechtschaffenheit und ein ebenso fest
begründetes Gefühl der Verantwortlichkeit in allen menschlichen Verhältnissen und
machte die Bernstorffs zu gradsinnigen und klaren Charakteren."
Was Dorothea Wilhelmine betrifft, so machte ihr religiöser Eifer das Zusammenleben
mit ihr allerdings nicht leicht. "Die Sanftmut, die dem jungen Mädchen eigen gewesen,
war längst zurückgedrängt, und um das Jahr 1750, als ihre Söhne in das erwachsene
Alter traten, scheint ihr Wesen einen Zug von Strenge und Härte gehabt zu haben. Die
Seelenstärke hatte den Sieg über das zarte Empfinden des Weibes davongetragen.
Sie war außerordentlich streng gegen sich selbst, aber auch sehr streng gegen andere,
und während die Erfahrungen und Sorgen des Lebens ihren Mann weicher und
nachsichtiger machten, scheint sie erst in ihren allerletzten Jahren von milderen
Stimmungen beeinflußt worden zu sein. Mit heißen Gebeten und scharfen
Ermahnungen wachte sie über Glauben und Leben der ihr Nahestehenden. Die Kinder,
welche täglich an ihr Bett geführt wurden