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oder an den Stuhl, in welchem sie kerzengerade saß, fühlten nur die Einwirkung des
Ernstes aus dem bleichen, schmalen Antlitz und den schwarzen, klugen Augen, die bis
auf den Grund ihrer Seelen zu dringen suchten. In den Kinderjahren trat sie ihnen nur
als strenge Ermahnerin und Zuchtmeisterin entgegen, und erst später erhielt z. B. der
jüngste Sohn Andreas Peter Gelegenheit, zu sehen, daß sich hinter der kalten Schale
warme Mutterliebe verbarg."
Dorothea Wilhelmine war das stets wache religiöse Gewissen der Familie, und die
Erinnerung an ihre strenge Frömmigkeit wirkte noch lange nach ihrem Tode in Gartow
fort und hat sicherlich dazu beigetragen, die Atmosphäre Gartows bis in die Gegenwart
zu prägen. Trotz ihrer Kränklichkeit ist Dorothea Wilhelmine 64 Jahre alt geworden. Am
20.6.1763 ist sie gestorben. Die Eintragung, die Andreas Gottlieb aus diesem Anlaß in
das Gartower Buch gemacht hat, zeigt, wie sehr er diese Frau, die ihm doch sicher
durch ihre übersteigerte Religiosität das Leben oft nicht leicht gemacht hat, geliebt hat.
Er schreibt: "Sie war die tugendhaftigste zärtlichste Frau, die vernünftigste
Rathgeberin, die getreueste Mutter, die gelindeste Herrschaft, die getreueste Freundin,
die ordentlichste Haushälterin und die aufrichtigste eifrigste Christin, sie führte wie
Enoch ein göttliches Leben auf Erden, sie lase und sprach von nichts lieber und
häufiger, als was zu ihrer und derer Ihrigen Seelenheil gereichte, sie thate den Armen
viel Gutes im Geheime, sie hatte einen sehr scharfen Verstand und Einsicht; wenn es
die Gesundheit einigermaßen zuließ, war sie heiter und aufgeweckt und war dabei von
Persohn groß, wohlgewachsen, freundlich, sehr schön und hat sie solche äußerliche
agrements sehr lange conserviret. Kurz, ich bin durch ihr 30 Jahre lang der glücklichste
Mann in der ganzen Welt geblieben, nun aber .... Domine miserere mei.“
Andreas Gottlieb der Jüngere war ein schlichter Landedelmann, der nicht mehr sein
wollte als der Herr auf Gartow und der sich am wohlsten in Gartow fühlte. Aber
trotzdem hat er sich nicht den öffentlichen Aufgaben entzogen, die an ihn herantraten.
Er hatte, wie der Großvater es bestimmt hatte, und wie es Generationen hindurch
gehandhabt worden ist, einen feierlichen Eid auf das Familienstatut Andreas Gottliebs
d.Ä. geleistet, und in diesem hieß es, seine Nachkommen sollten vor allem bedenken,
daß persönliche und familiäre Wohlfahrt untrennbar verbunden sei mit der "Wohlfahrt
und dem bene esse, auch guten Gouvernement des Landes, der Republic oder
Societas civilis, worin man lebet und stabilirt ist". Dieser Mahnung fühlte er sich
verpflichtet. Er hatte in seiner Jugend, insbesondere durch Universitätsbesuch und die
große Bildungsreise eine genügende Ausbildung erhalten, um "honorable officia“ zu
erfüllen. Und solche Pflichten traten denn auch bald an ihn heran.
Allerdings waren es nicht eigentlich Staatsämter im Dienste des König-Kurfürsten, in
die er berufen wurde, sondern ständische Ämter in der damals noch stark von den
Ständen beherrschten Verwaltung des Landes. Er wurde bald nach des Vaters Tode
im Jahre 1738, nunmehr 30 Jahre alt, von den Ständen zum Kriegsrat gewählt und
daraufhin vom Kurfürsten dazu ernannt. Als solcher hatte er insbesondere die
Aufbringung der Kontributionen in Kriegsfällen zu organisieren, wie das in der Zeit der
französischen Besetzung in den vierziger Jahren im Kriege zwischen