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arbeitete seine Depeschen Wort für Wort im Kopf aus, ehe er sie niederschrieb. Beim
Diktat eines Briefes wollte er manchmal diesen oder jenen Ausdruck, der ihm gerade
einfiel, nicht benutzen, weil er wußte, daß er ihn an einer späteren Stelle noch
brauchte. Er hatte ein sehr zuverlässiges Gedächtnis. Seine Zitate und Wiedergaben
aus Gesprächen und Schriftstücken sind fast immer korrekt. Sein Sekretär
Wasserschlebe erzählt das fast Unglaubliche, daß er, wenn es mit der Absendung
eines Briefes sehr eilte, die Kopie erst nach der Absendung des Briefes diktierte, ohne
sich in einem einzigen Wort zu irren.
Johann Hartwig Ernsts Niederschriften zeugen von außerordentlicher Klarheit der
Gedanken. Jeder Brief und jede Eingabe ist nach einem festen Plan aufgebaut. Die
Wirkung jedes Satzes ist genau berechnet. Aage Friis bezeichnet Johann Hartwig
Ernst als Meister der diplomatischen Korrespondenz und kennt keinen anderen großen
Diplomaten des 18. Jahrhunderts, der in der Kunst des Stils über ihm stände. Auch
mündlich war er, wie ein französischer Minister es bezeugte, von natürlicher
Beredsamkeit. In der Sache von warmer eindringlicher Überzeugungskraft, in der Form
von äußerster Verbindlichkeit, brachte er seine ausgeprägte Persönlichkeit zu voller
Geltung. Sein Streben nach Konzentration fand Befriedigung nur in fleißiger Arbeit.
Darin unterschied er sich, so sehr er auch seinerseits am geselligen Leben teilnahm,
grundlegend von seinen Pariser Bekannten, die vor allem Zerstreuung suchten.
Johann Hartwig Ernst sprach und schrieb ein vorzügliches Französisch. Den größten
Teil seiner diplomatischen Korrespondenz führte er, der Gewohnheit der Zeit
entsprechend, auf Französisch. Er sprach, wie damals von Franzosen geäußert wurde,
besser Französisch, als mancher Franzose. Das ging so weit, daß Voltaire ihn einmal
in einem Brief als Landsmann bezeichnete, "denn so, wie Sie unsere Sprache
sprechen, würde es ein Irrtum sein, Sie nicht für einen Franzosen anzusehen, und
obendrein für einen der liebenswürdigsten".
Johann Hartwig Ernst liebte Frankreich, aber er sah auch seine Dekadenz und
erkannte deren Grund schärfer als andere in dem Schwinden aller religiösen
Bindungen. Seine feste Verwurzelung im Christentum befähigte ihn, all die Ideen
Frankreichs ohne eigene Demoralisierung aufzunehmen. Rößler sagt: "So wie sein
dienstliches Leben durchpulst war von dem Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, so
war auch jedes Urteil über andere Menschen und Ideen letzthin geprägt von seinen
christlichen Wertmaßstäben." Madame de Belle-Isle versuchte, ihn zum Katholizismus
hinüberzuziehen. Aber er schrieb ihr: "Die Menschen wissen mit einer Sicherheit, die
alle Möglichkeiten eines Zweifels ausschließt, daß es einen Gott gibt, der allgütig,
allmächtig und allgerecht ist, der sich selbst hingegeben hat, um sie glücklich zu
machen und sie dem Verderben zu entreißen, in das sie sich stürzen; sie wissen, daß
Gott noch täglich über ihre Heiligung wacht, daß sie nach seinem Willen dies Leben
nur als eine Pilgerfahrt, als eine Prüfung betrachten sollen und daß sie, wenn es nötig
ist, lieber hier unglücklich sein als die geringste Gefahr laufen sollen, das wahre Leben
zu verlieren, für das sie geschaffen sind. ... Aber nur soviel wissen die Menschen. Die
Religion sagt ihnen nicht mehr und verlangt nicht mehr von ihnen; sie ist also das
einfachste von allem, und der göttliche Schöpfer