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Keine Arbeit, keine Lektüre, keinen Brief begann sie ohne Gebet, keine Reise trat sie
ohne Gebet an. Sie konnte mitten im Familienkreis auf die Knie fallen und laut beten.
In der Stolbergschen Familie wuchsen 12 Kinder heran, die aber noch nicht alle
geboren waren, als Andreas Peter in die Familie eintrat. Die älteste Tochter Henriette
war im Januar 1747 geboren, also 11 Jahre alt, als Andreas Peter sie kennen lernte.
Sie und ihre Geschwister wuchsen im Geist der tiefen Frömmigkeit der Eltern auf. Die
Liebe der Mutter galt in erster Linie der Erziehung ihrer Kinder, aber ihre strengen
religiösen Grundsätze waren im Unterschied zu vielen anderen pietistischen Häusern
von gütiger und natürlicher Wärme getragen. In Anbetracht der vielen Kinder wurde
Henriette, im Hause „PuIetchen" oder „Hühnchen" genannt, frühzeitig zur Gehilfin der
Mutter.
Das Stolbergsche Haus hatte schon Johann Hartwig Ernst wegen seines religiösen
Ernstes und wegen des Verantwortungsbewußtseins Stolbergs bei der Verwaltung der
Begüterung der Königin-Witwe und gegenüber den Untertanen gefallen, und
deswegen führte er Andreas Peter alsbald dort ein. Dieser befreundete sich bald mit
dem um 20 Jahre älteren Grafen, und es entwickelte sich lebhafter Verkehr zwischen
dem Stadtpalais und zwischen den Gütern Hörsholm und Bernstorff. Die Gräfin war um
13 Jahre älter als Andreas Peter, und er war ihr sehr zugetan; sie scheint die einzige
Dame seines damaligen Verkehrskreises gewesen zu sein, für die er tiefere Sympathie
empfand. So wurde es zur festen Regel, daß er wöchentlich einen Nachmittag im
Stolbergschen Haus war. Und so kam es allmählich dahin, daß nicht mehr der Graf
Stolberg und nicht mehr die Gräfin als eine liebe ältere Freundin die
Hauptanziehungskraft des Stolbergschen Hauses für ihn waren, sondern daß dies die
heranwachsende, immerhin aber erst 14-jährige Tochter Henriette wurde. Andreas
Peter verliebte sich in sie.
Henriette war als älteste Tochter und Gehilfin ihrer Mutter gegenüber dem großen
Geschwisterkreis früh gereift und trug früh Verantwortung in ihrem Elternhaus. Andreas
Peter sagte von ihr am Tage vor ihrem 16. Geburtstag: "Nach ihrem Aussehen würde
man ihr 2 Jahre mehr geben, und vielleicht 10 Jahre, wenn man ihren Charakter
kennt.. Vorerst war sie aber erst 14, und der 26-jährige Andreas Peter empfand tiefe
Liebe zu ihr. Anders als Johann Hartwig Ernst, der aus rein verstandesmäßigen und
nicht zuletzt wirtschaftlichen Gründen ohne tiefe Liebe seine Wahl getroffen hatte, war
Andreas Peter von starken Gefühlen erfüllt. Der Ausdruck von Gefühlen entsprach
sehr dem Geist der damaligen Zeit, zumal in einem Kreis, dessen geistiger Mittelpunkt
Klopstock war, der ein täglicher Gast auch bei den Stolbergs war und auch zum
postillon d'amour zwischen den Häusern Hörsholm und Bernstorff wurde.
Der Geist der Familie Stolberg paßte gut zu dem der Bernstorffs. Die starke
Religiosität, die in Gartow seit Andreas Gottliebs d.Ä. Zeiten herrschte und mit der in
erhöhtem Maße Dorothea Wilhelmine das Gartower Haus erfüllte, fand der Sohn
Andreas Peter auch im Stolbergschen Haus. Henriette hatte ein besonders inniges
Verhältnis zu der Mutter. Sie war in ihren religiösen Äußerungen zwar zurückhaltender,
lebte aber doch in der Frömmigkeit der Mutter. Sie war, wie ihre beiden jüngeren
Brüder, die späteren Dichter Christian und Friedrich Leopold, dichterisch begabt