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Diktats von Versailles - eine solche Versöhnung noch weit entfernt war. Johann Heinrich sah
die Zukunft für Deutschland in einer Verständigung mit dem Westen; deshalb hielt er auch den
Rapallo- Vertrag mit den Russen für nicht unbedenklich.
Der erste Anlauf zur Gewinnung eines Reichstagsmandats mißlang. Johann Heinrich gewann
das erstrebte Mandat im Wahlkreis Düsseldorf-West nicht. Aber da in Schleswig-Holstein
wegen der dortigen Volksabstimmung die Reichstags-wahl später als im übrigen Deutschland
stattfand, konnte er nunmehr in seiner engeren Heimat, "an der sein Herz hing", kandidieren,
und hier hatte er 1921 Erfolg. Damit war er nach seinem verstorbenen Bruder Andreas, der von
1893 bis 1903 Reichstagsabgeordneter gewesen war, seit 1921 der zweite Bruder, der dem
Reichstag angehörte. Übrigens hatte auch sein anderer Bruder Percy dem preußischen
Abgeordnetenhaus angehört.
In der demokratischen Reichstagsfraktion hatte Johann Heinrich eine sehr angesehene
Stellung und fühlte sich in ihr sehr wohl. Man ließ ihm in auswärtigen Fragen ganz freie Hand,
und er hat die 7 Jahre hindurch, in denen er Mitglied des Reichstages war, immer die Fraktion
in auswärtigen Angelegenheiten im Plenum vertreten; er führte auch die Stimme seiner Fraktion
im Auswärtigen Ausschuß. Johann Heinrich kritisiert an der Fraktion seiner Partei, daß sie zu
viel Neigung zum Theoretisieren und zu wenig Willen zur Macht gezeigt habe, der die
Quintessenz aller großen Politik sei; aber diesen Fehler habe der ganze Reichstag gehabt.
Als ein großes Unglück bezeichnet Johann Heinrich es, daß bei der Bildung der
demokratischen Partei Stresemann nicht in sie aufgenommen wurde, der statt dessen die
Deutsche Volkspartei gründete. Da beide Parteien sich im wesentlichen an die gleichen
Wählerkreise wendeten, hätten sie sich notwendigerweise beson-ders erbittert bekämpft und
dadurch einen politischen Riß in das gebildete Bürger-tum gebracht. Johann Heinrich hat sich
in den Jahren seiner Zugehörigkeit zum Reichstag immer, aber vergeblich, bemüht, eine Fusion
beider Parteien herbei-zuführen.
Johann Heinrich vertrat im Reichstag die Auffassung, daß die gesamte deutsche auswärtige
Politik aufgebaut werden müsse auf dem Gedanken der Solidarität der wirtschaftlichen
Interessen aller Nationen. Die damalige imperialistische Politik Frankreichs war von diesem
Gedanken weit entfernt. Es bestand schon damals, 1921, die Gefahr eines Einmarsches der
Franzosen in das Ruhrgebiet, und es kam Johann Heinrich in erster Linie darauf an, das zu
verhindern, die Einheit des deutschen Volkes zu erhalten und das Ruhrgebiet sowie im Osten
Oberschlesien zu retten. Deshalb war er für die Annahme des Londoner
Reparations-Ultimatums, was dann auch geschah. Die deutsche auswärtige Politik konnte
damals nach Johann Heinrichs Ansicht nichts anderes sein als eine Defensivstellung gegen die
Politik Poincarés. Obwohl es offensichtlich war, daß die Bedingungen des Versailler Vertrages
und des Londoner Ultimatums unerfüllbar waren, bejahte Johann Heinrich die sogen.
Erfüllungspolitik, um der Welt durch die Bestätigung des guten Willens die Unerfüllbarkeit zu
beweisen und dadurch eine günstigere Atmosphäre zu schaffen, vor allem auch Poincaré die
Möglichkeit zu entziehen, in Deutschland einzumarschieren und die Einheit des deutschen
Volkes zu zerreißen.