Seite 373
Der Mord an Rathenau im Jahre 1922 entsetzte Johann Heinrich sehr. Ihm war der
Antisemitismus von jeher sehr zuwider gewesen, nicht nur, weil er viele besonders treue und
zuverlässige jüdische Freunde hatte, sondern weil er als Politiker im Antisemitismus eine
Schwäche sah; denn er beruhe auf der Furcht, die geringe jüdische Minderheit könnte in
geistiger, politischer und wirtschaftlicher Beziehung die Herrschaft über uns erlangen. Johann
Heinrich lehnte es ab, sich vor den glänzenden Gaben der jüdischen Mitbürger zu fürchten. Als
deutsch galt ihm jeder, der die Sprache Goethes als die seine liebte und der den deutschen
Staat aufbauen wolle auf den Grundlagen, die Friedrich d.Gr., Stein und Bismarck geschaffen
hatten. Und Rathenau war nach Johann Heinrichs Urteil der erste deutsche Außenminister
nach dem Kriege, der Erfolge erzielt hatte, indem es ihm gelang, die öffentliche Meinung der
Welt gegenüber Deutschland umzustimmen. Die deutsche Republik bedürfe charakterfester
Männer, die sich dem antisemit-ischen Taumel entgegenstellten, bevor weiteres Unglück
geschehe. Das deutsche Volk dürfe in Zukunft die Leistungen seiner führenden Männer nur
nach sachlichem Maßstab und nicht nach ihrer Religion oder Blutzusammensetzung beurteilen.
Zwischen Stresemann und Johann Heinrich bildete sich, obwohl sie verschiedenen Parteien
angehörten, ein enges Vertrauensverhältnis. Durch Stresemann kam auch eine Versöhnung
zwischen Johann Heinrich und Hindenburg zustande, der seit dem Kampf um den
unbeschränkten U-Boot-Krieg Johann Heinrich ablehnend gegenüberstand und der ihn nun
wieder amtlich mitarbeiten ließ. Hindenburg gab Stresemann gegenüber auch zu, daß er, wenn
er gewußt hätte, daß die Amerikaner herüberkommen würden, den U-Boot-Krieg nicht gemacht
hätte. Als 1926 Johann Heinrich mit der deutschen Vertretung in der vorbereitenden
Abrüstungskonferenz beauftragt worden war, ließ Hindenburg ihn nach 2-jähriger Dauer dieser
Verhand-lungen kommen und sprach ihm seine Anerkennung für seine Verhandlungs-führung
aus. Wie nüchtern Johann Heinrich die Aussichten auf Abrüstung beurteilte, ergibt sich daraus,
daß er auf Hindenburgs Frage, ob er an die Abrüstung glaube, antwortete: "Nicht zu meinen
Lebzeiten", worauf Hindenburg sagte: “Dann werde ich sie wohl auch nicht erleben."
Johann Heinrichs vordringliches politisches Anliegen, der Kernpunkt seines politischen
Denkens, war der Völkerbund, dessen Gründung auf den berühmten 14 Punkten Wilsons
beruhte. Deshalb war er nach der Revolution und noch vor Bildung des Völkerbundes
Mitgründer der "Deutschen Liga für Völkerbund“ in Berlin und nach Erzbergers Rücktritt ihr
langjähriger Präsident. Nach Übernahme des Präsidentenamtes hat er in einem Presseartikel
seine Vorstellungen über den Völkerbund ausgesprochen. Er sagt: Das Ideal ist die Herstellung
eines wahren Völkerbundes, über dem die Majestät des Rechtes thront, und der auf Grund
einer vollen Durchführung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker jeder Nation das ihrige
gibt und eine allgemeine Abrüstung ermöglicht. Der ewige Friede ist ein Ideal, das wie alle
sittlichen und religiösen Ideale auf Erden niemals realisiert werden dürfte. So oft das Ideal in
menschlicher Gestalt unter uns wandelt, hat man es von je gekreuzigt und verbrannt. Das
hindert aber nicht, daß das Streben nach dem Ideal den besten Inhalt des Menschen- und
Völkerlebens ausmacht, und daß die Weltgeschichte als das ständige Emporarbeiten der
Menschheit zu der