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Charlotte überlebte ihren Mann nur um 6 Jahre. Dann starb auch sie, erst 42 Jahre alt.
Andreas Gottlieb d.J. widmet ihr folgende Worte: "Am 5ten Juni 1763 starb an der
Schwindsucht die Wittwe Canzley-Director v. Bernstorff geb. Gaster Charlotte von
Holle im 43sten Jahre ihres Alters. Sie war garnicht hübsch noch ansehnlich, zitterte
stark und war sehr still in Gesellschaft, sonst aber ein Ausbund braver Frauens, sehr
christlich und tugendhaft, eingezogen gute Haushälterin, vernünftig, sie liebte und
pflegte ihren kränklichen alten Mann in dem allerhöchsten Grade, sein Wille war der
ihrige und blieb dessen Andenken bei ihr fast zu stark, indem sie lieber alle übrigen
Leute und Anverwandte condemnirte, als glauben wollte, daß derselbe jemals geirrt
oder gefehlt hätte. Sie hinterließ 3 kleine Kinder, einen Sohn und 2 Töchter, die sie mit
der äußersten Liebe und Sorgfalt ohne solche zu quittieren (d.h. zu verlassen)
erzogen."
Die Tochter Sophie war Stiftsdame des Klosters Wennigsen und heiratete 1778 in
Borstel, dem holsteinischen. also im damaligen dänischen Gesamtstaat belegenen
Besitz ihrer Kusine Charitas Emilie geb. Buchwald, der Witwe Johann Hartwig Ernsts,
den Geheimen Regierungsrat Ernst Carl Constantin v. Schardt in Weimar, geb.
Weimar 11.4.1744, † ebenda 5.4.1833. Er war der Bruder von Goethes Freundin
Charlotte v. Stein. So kam Sophie nach Weimar, wo sie bis an ihr Lebensende blieb.
Sie empfand aber, teils in Borstel, teils in Kopenhagen bei ihrem Vetter Johann Hartwig
Ernst und später seiner Witwe Charitas Emilie als Waise aufgewachsen, den
dänischen Gesamtstaat, in dem damals Andreas Peter und nach ihm zunächst sein
Sohn Christian Günther regierte, als ihre Heimat und bezeichnete sich noch 1808
Napoleon gegenüber als "Danoise" und Mitglied des Volkes, das Napoleon am meisten
zugetan war (kein Wunder nach dem Verhalten der Engländer gegenüber Dänemark!).
Sie war damals überhaupt eine große Anhängerin Napoleons.
Sie wurde, wie Detlev W. Schumann schreibt („Goethes Beziehungen zu Nordelbingen
und zu Nordelbiern“ in Bd 42 des Jahrbuchs "Nordelbingen", 1973), geschildert als
eine zierliche lebhafte Frau mit großen dunklen Augen, sprachlich und dichterisch (wie
ihr Bruder!) talentiert. Herder war verliebt in "die kleine Charis der Güte und Liebe", die
für ihn eine Verkörperung anmutiger Unschuld war. Schiller dagegen charakterisiert sie
als ein "feines, schlaues, einschmeichelndes Geschöpfchen, nicht ohne Geist", mit
lebhaften sehr begehrlichen Augen, eine Frau, die man in jeder anderen Gesellschaft
als der laxen weimarischen eine "ausgelernte fille de joie“ nennen würde. Bei Goethe
erscheint sie oft in Tagebuchaufzeichnungen und Briefen als "die kleine Schardt" oder
"die Kleine", wie sie allgemein in der Weimarer Gesellschaft hieß. Er nennt sie "ein
gutes treffliches Wesen" und dankt ihr am 28.8.1781 für Blumen mit den Worten:
"Glauben Sie mir, daß es eins von den liebsten Geschenken mir zum Geburtstag ist,
daß ich Sie unter den Lebenden nicht vermisse." Später, nach seiner Entfremdung von
Charlotte v. Stein, erwähnt er sie nur noch selten.
In höherem Alter wurde die "amüsante amoureuse kleine Schardt" (Schumann) fromm
und schließlich katholisch, was mit auf den Einfluß von Andreas Peters Schwager
Friedrich Leopold Stolberg zurückzuführen war.