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Dies ist der letzte Brief, den Sie von Willefrank aus Regenspurg erhalten werden.
Schreiben Sie mir daher nicht, bis Sie eine neue Addresse von mir bekommen werden.
Bis dahin nehme ich Abschied von Ihnen, leben Sie wohl und denken Sie der
Vollkommenheit nach. Dieselbe ziehet mich nun immer kräftiger nach Süden und mich
verlanget, die Offenbarungen zu sehen, die dort den Auserwählten wiederfahren sind.
Dieser Offenbarungen aber hat sich ein jeder zu getrösten, der sich der
Vollkommenheit in stillem Ernst befleisset. Denn ich habe wahrlich den Himmel offen
gesehen und den Herkules, Apoll, Venus und neben ihr die Gratie. Herkules aber
stand abgewandt, Apoll sah in die Höhe, Venus aber auf ihn. Neben ihr die Gratie, an
der jeder etwas zu küssen wünschen würde, wenn die Menschen sie sähen und sie hat
mir den Zipfel ihres Mantels gereicht, der rosenfarb war mit silbernen Blumen. Man
sieht sie aber selten ganz: sondern hier an einem Mädchen das Mündchen, dort das
Händchen u.s.w. Sie ist nicht so schwer als Venus und theilt sich noch beständig sehr
vielen Künstlern mit. Nun hören Sie etwas:
Den Chodowieki scheint sie zu fliehen, und dieser Künstler hat blos den Ausdruck und
die Kraft. Gleichwohl füllt er alles mit seinen Unsauberkeiten an. Ich bin daher der
Gratie zu Dienst aufgetreten und habe ihn zu einem Wettstreit aufgefordert in der
hohen Kunst. Ein vom Schiedsrichter zu wählend Stük von Shakespear habe ich zur
malerischen Bearbeitung, zum Schiedsrichter aber den deutschen Shakespear Göthe
vorgeschlagen. Ich warte nun mit Ungeduld auf seine Antwort.
Es sind siebenzehn Contur-Linien, in denen das ganze Geheimnis der hohen
Schönheit verborgen. Sie haben einen doppelten Grund das Element der Schönheit,
welches einer von den 24 Buchstaben ist und die Kraftbeugung. Wohl dem, der sie
findet!
Auch einen Gruß von der Titianischen Venus!
Willefrank.
P.S. Die Göttin offenbart sich mir täglich, und als ich neulich einen vom Bliz
zerspaltnen Baum malte: so hat sie sich sogar in den Rissen des etwas verfaulten
Holzes offenbart. Wer sollte hier nicht zu ihrem Lobe entflammt werden? Ja es ist fast
zu groß zu sagen; vor einigen Tagen hat sie mir sogar ihren Wagen gesandt und da
ich gegen Morgen erwachte, befand ich mich in selbigem. Ja diese meine Ohren
haben die unsterblichen Rosse wiehern gehört und ich habe deutlich den Flug des
Wagens verspürt, der mich über die Wolken trug. Nun, große Göttin, so sey denn
gelobt, den Du weißt am besten mein Harren und Streben.
Wie die Wurzel nach der Erde
Strebt, so strebt mein Herz Dir zu
Wie das schlanke Schilf dem Winde
Wankt, so wankt mein Herz Dir zu
Wie der durstge Hirsch dem Wasser
Eilt, so eilt mein Herz Dir zu.
Ja wie das gejagte Reh in der Felsschlucht: so bin ich in Deine Arme geeilt und Du
krönst meine Schläfen mit Imergrün und dem Lorbeer, der nicht welkt, und meine
Wange glüht an Deinem Busen, aus dem mein Mund den Frieden saugt in alle
Ewigkeit der Ewigkeiten meines unvertilgbaren Ruhms.
Noch eins und mir ists lieb, daß ichs nicht vergessen. Es ist billig, daß ich Ihnen ein
Produkt meiner Kunst weihe. Suchen Sie Sich aus Göthens Stella eine Situation aus,
die Ihnen am meisten nach dem Herzen ist. Die will ich Ihnen mahlen. Schreiben Sie
mir auch, wie groß die Figuren seyn sollen, und ob Sie sie ganz oder halb haben
wollen? Sagen Sie nicht, ich will es Ihrer Ausführung überlassen. Die Freundschaft soll
diesmal über einen Pinsel gebieten, der sonst keinen Gesetzgeber erkennt.