Seite 98
die jüngeren Geschwister unserer Herzogin erzogen hat und letztere ganz zärtlich liebt
und als mütterliche Freundin bei ihr bleiben wird.“
Julie war offenbar auf Grund der tiefen Frömmigkeit ihres Elternhauses selber ganz
von einem betonten Christentum durchdrungen. Kügelgen schreibt: Sie "warf sogleich
die Angel nach uns aus, und wir erkannten in ihr eine weit geförderte christliche Seele."
Leider wurde sie bald nach ihrer Ankunft schwer krank und scheint überhaupt für ihr
weiteres Leben kränklich geblieben zu sein. Kügelgen schreibt: „Julchen (seine Frau)
und ich bringen öfter den Abend bei ihr zu, und es ist rührend zu sehen, welche
außerordentliche Freude sich jedesmal auf ihrem Gesicht malt, wenn wir eintreten. Es
ist etwas Großes, zu sehen, wie glückselig ein Christ sein kann unter so schweren
leiblichen Leiden. Wir unterhalten uns dann den ganzen Abend von den Hoffnungen
des Glaubens, oder es werden einzelne Glaubenssätze zergliedert und zum
Verständnis gebracht; oder es werden Erfahrungen mitgeteilt, die einem oder dem
anderen zum Segen geworden sind."
Kügelgens Enkelinnen schreiben von Julie: Sie hielt „mit großer Energie den
schwachen Leib unter der Herrschaft eines festen Willens, soweit das irgend möglich
war; ungewöhnlich lebendigen Geistes war sie immer tätig, immer anregend und übte
einen großen Einfluß auf alle, die ihr nahetraten. Dem Kügelgenschen Hause wurde
sie die treueste Freundin und Vertraute; sie teilte alles mit ihnen, sowohl mit den
Großen, als mit den Kleinen. Kein Familienfest wurde gefeiert, ohne durch sie in
mancherlei Weise verherrlicht und belebt zu werden, kein Brief lief ein, der ihr nicht
mitgeteilt wurde, kein Schmerz traf ihre Freunde, den sie nicht voll und ganz mit auf ihr
treues, betendes Herz nahm. Kam sie zur Großmutter Kügelgen (die damals auf ihrem
letzten Krankenlager lag), so ließ diese das Sofa an ihr Bett tragen, damit Fräulein v.
Bernstorff sich darauf streckte, und so unterhielten sie sich von allem, was ihnen am
Herzen lag."
Und Wilhelm v. Kügelgen selber schreibt nach dem Tode seiner Mutter am 26.5.1842
an seinen Bruder: "Vom Todestage an bis heute hat sich das kranke Fräulein
Bernstorff immer schon des Morgens früh sieben Uhr bei uns eingestellt und ist den
ganzen Tag bei uns geblieben und zwar fröhlich und getrost in ihrem Glauben. Sie ist
in meinem Hause wie eine Lebensessenz und wie ein stärkender würziger Duft!"
Julie war in Ballenstedt die ständige Begleiterin ihrer Herzogin, an die sie sich immer
mehr anschloß, und als sie nach langen Jahren ihre Stellung als Hofdame aufgab,
blieb sie als Vertraute und als engste und zuverlässigste Freundin ihrer Herzogin in
Ballenstedt bzw. Bernburg. Dort lebten auch die Mutter der Herzogin, die verwitwete
Herzogin Luise von Schleswig-Holstein-Glücksburg, und ihre jüngere Schwester,
Prinzessin Luise, so daß ein fester Kreis von Schleswig-Holsteinern am Anhaltiner Hof
beisammen war.
In den Jahren der Geistesstörung des Herzogs brauchte die zur Mitregentin ernannte
Herzogin treue und zuverlässige Freunde, und eine der Getreuesten in jener Zeit war
Julie Bernstorf. Als dann 1863 Alexander als letzter Herzog von Anhalt-Bernburg starb
und das Land mit Anhalt-Dessau vereinigt wurde, schloß sich Julie um so fester an ihre
Herzogin an, die ihren Wohnsitz